Von Dieter und Peer Mia Ripberger

Am Freitag, den 13. März – und erneut zum 2. November – des Jahres 2020 wurde mit dem angeordneten Shutdown der bisher angenommene elementare Daseinszweck des Theaters, die Organisation von analogen Vergemeinschaftungsanlässen, durch hoheitliche Verordnung verunmöglicht. Der Kontakt zum Publikum – untersagt. Der Probenbetrieb – vor enorme berufsgenossenschaftliche Herausforderungen gestellt. Der Ausweg in die digitalen Kanäle lag nahe. Dennoch haben wir gezögert, oder ehrlicher: Wir standen unter Schockstarre und haben uns die ersten Tage gar nicht bewegt. Stattdessen haben wir uns angeschaut, was die anderen machen: Haben Theatermitschnitte gestreamt und uns Gedichte auf Facebook vorlesen lassen und haben am Ende des Tages meist gemerkt, dass wir nach wenigen Minuten ganz automatisch auf Netflix umgeschaltet haben: »La casa de papel« war so viel spannender und irgendwie besser für den heimischen Bildschirm gemacht.
Mit dieser Erfahrung im Kopf haben wir als ITZ den digitalen Reflex »machen wir irgendwas online« unterdrückt und die Krise als Nullpunkt ernst genommen. 10 Tage später stand eine künstlerische Idee, die uns – und im Rückblick darf man sagen: auch das Publikum und weite Teile der Kritik – überzeugt hat.
Aber von vorne: Was um alles in der Welt ist das »Institut für theatrale Zukunftsforschung« im Zimmertheater Tübingen? Zum einen sind wir das kleinste Stadttheater Deutschlands, zum anderen verstehen wir uns als Hybrid aus Produktionsort für die bundesweite und europäische Freie Szene (Hallo fräuleinwunderAG, Hallo MonsterControlDisctrict, Hallo Hildesheim!) und Ensemblebetrieb mit stadttheatral durchgetaktetem Spielplan. Unser Ansatz: entschieden diskursiv und konsequent zeitgenössisch. Das heißt: Wir produzieren ausschließlich Stückentwicklungen und zwar im Zwiegespräch mit der Öffentlichkeit und der versammelten Intelligenz der Tübinger Exzellenzuniversität. Immer mittwochs gibt’s Diskurs und keine Proben. Der Witz: diese Formate dienen der Produktion und gehen in die Entstehungsprozesse ein, sie sind nicht nachgelagerte Relevanzerzeuger und Marketinginstrumente. Die so konzipierte Kulturelle Bildung wird zum zeitgemäßen Audience Development und wir erreichen nach zwei Jahren eine signifikant verjüngte und verbreiterte Zielgruppe, insbesondere auch Nicht-Theatergänger*innen, die sich thematisch locken und ästhetisch überraschen lassen.
Die Beschäftigung mit dem Topos der Digitalisierung stand von Anfang an im Zentrum, schließlich befindet sich Tübingen inmitten des Cyber Valley, weltweit eines der führenden Zentren der KI-Forschung, das wächst und wächst und wächst. Wir haben uns daher vorgenommen, sowohl diskursiv wie ästhetisch an der gesellschaftlichen Debatte über die Ethik der Digitalisierung mitzuwirken. Mit der »Maschinen-Trilogie«, die Peer Mia Ripberger hier entwickelte, wurde der programmatische Startpunkt gesetzt. »Im Rausch der Maschinen oder das Recht auf Faulheit« war eine soziologische Perspektive auf die Veränderung der Arbeitswelt und eine Utopie der freiwerdenden Zeit. Auf der Bühne nahmen über Facetracking gesteuerte Avatare den realen Menschen einen Teil ihrer Arbeit ab, die es sich dafür in einem überdimensionalen Bett gut gehen lassen konnten. Mit »Im Antlitz der Maschinen oder das Recht auf Makellosigkeit« folgte eine psychologische Perspektive auf die Veränderung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen durch algorithmenbasierte Beauty-Filter, Fremd- und Selbsttäuschung. Auf der Bühne dialogisches Kammerspiel, narzisstische Selfieness und Filmästhetik – Menschen auf einem überdimensionalen Sofa. »Im Getriebe der Maschinen oder das Recht auf Menschlichkeit« – wegen Corona verschoben. Auf der Bühne: u.a. ein Roboter.
Digitalisierung war bisher für uns vor allem eines: ein geeigneter Inhalt für das Theater, ein Diskussionsanlass, den wir für kleinere ästhetische Experimente nutzten: das Spiel mit neuen Medien und deren Potential als neuartige theatrale Mittel.
Am Anfang dieser Spielzeit gingen wir einen Schritt weiter: Mit der VR-Installation »VREEDOM«, entwickelt vom Kollektiv MOSAIK, öffnete sich das ITZ einer Kunstform, deren technologische Entwicklung und dramaturgische Konzeption absolut am Anfang steht. Eine Experience für drei Personen, die sich in der virtuellen Welt – und doch auch sehr real im Bühnensetting – begegnen. Leibliche Ko-Präsenz mit VR-Brille.

Vielleicht ist das konservativ. Aber bei aller – auch von uns geteilter – Digitalisierungs- und Innovationseuphorie (neue Themen, neue Formate, neue Publikums-Zielgruppen) sollten wir eines nicht aus dem Blick verlieren: Neue Medien, digitale Infrastruktur etc. sind teuer. Es ist kein Zufall, dass sich im IT-Bereich die größten Monopole aller Zeiten gebildet haben. Dagegen sind wir als Kulturakteure lediglich winzigste Kleinstlebewesen, die zusammengenommen zwar vielleicht aufgrund ihrer schier unglaublichen Menge einen wesentlichen Teil der Biomasse ausmachen, aber für sich allein immer noch sehr klein und unbedeutend sind. Wenn wir uns dennoch in dieses Gebiet vorwagen wollen, stellt sich unweigerlich die Frage, aus welchem Interesse heraus wir das tun: Aus einer unzähmbaren Lust, als Künstler*innen neue Wege zu beschreiten? Weil uns unsere alten Pfade zu sehr langweilen und wir das Abenteuer suchen? Weil wir einer uns selbst zugeschriebenen gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollen und diese schöne neue Welt nicht den wenigen Giganten der digitalen Megafauna überlassen wollen? Oder weil wir einen tatsächlichen gesellschaftlichen Auftrag erteilt bekommen? Aber müsste dieser dann nicht mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen hinterlegt werden? Da sollten wir ehrlich zu uns selbst sein und – ganz nach Hildesheimer Schule – unser eigenes Kunstverständnis im Schaffen reflektieren.
Zurück ins Frühjahr 2020: Gemeinsam mit der Hildesheimerin Hannah Zufall, Autorin und Regisseurin, entwickelten wir in ZOOM-Proben und -Meetings eine Antwort auf die Frage, wie das Theater im Corona-Shutdown ein ästhetisches Erlebnis gestalten kann – gänzlich kontaktlos und dennoch im öffentlichen Raum. Entstanden ist »Freund Hein. Ein Audiowalk mit dem Tod«. Und bevor so manche*r Hildesheimer*in nun denkt: Audiowalks gibt es doch schon seit gut 40 Jahren, was ist das Besondere? »Freund Hein« ist eine GPS-basierte App, die es ermöglichte, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem eigenen Smartphone (bring your own device) an dem Audiowalk teilzunehmen. Und das im eigenen Gehtempo, da wir kein starr getaktetes Raster anhand von stur ablaufender mp3-Dateien benötigten, sondern eine reagierende Technologie verwendeten, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort die jeweiligen Texte und die passende Musik aufs Ohr brachte – Plusminus die GPS-Genauigkeit eines circa 50 Meter-Radius. Die Programmierung leistete in frappierend kurzen 3 Wochen der Dramaturg Ilja Mirsky – interdisziplinäre Kompetenz im Haus ist Gold wert. So war das Publikum auf einem zweistündigen Spaziergang zum Umgang mit der Endlichkeit und dem Sterben stets eng begleitet von den Stimmen unseres Ensembles und den Soundtracks, die die schwarzhumorigen Texte von Hannah Zufall untermalten. In der geisterhaft leeren Innenstadt mitten im Shutdown ein erstaunliches Erlebnis von großer ästhetischer Wucht. Eine Notlösung? Nein, ein eigenständiges Kunstwerk, das formal und inhaltlich mit den externen Faktoren interagiert.